Die Silberne Wüste und das Songanmeer
Zusammen mit Cugel und Casmyre besorgte Garstang am nächsten Morgen die notwendige Ausrüstung. Sie wurden zu einem Ausstatter geschickt, der sich auf einem offenen und von einer breiten Straße begrenzten Platz niedergelassen hatte. Eine Mauer aus Lehmziegeln schirmte das Lager ab, in dem ziemlicher Lärm herrschte: Schreie erklangen, laute Rufe, dumpfes Knurren und kehliges Grollen, Zischen und Fauchen, Flüche und Verwünschungen. Darüber hinaus nahmen sie ein seltsames Konglomerat von Gerüchen wahr:
Ammoniak, Grünfutter, Dutzende von verschiedenen Dungarten, altes, fast schon faulig gewordenes Fleisch, beißende Dünste.
Cugel und die beiden Pilger schritten durch ein Tor und betraten das Büro, von dem aus man den ganzen Platz überblicken konnte. In den dort aufgestellten Käfigen, Pferchen und Verschlägen befanden sich so viele exotische Geschöpfe, daß selbst Cugel erstaunt war.
Der Ausstatter kam auf sie zu: ein gelbhäutiger, narbengesichtiger großer Mann, dem sowohl die Nase als auch ein Ohr fehlte. Er trug eine Kutte aus grauem Leder, die an der Taille zusammengeschnürt war, und den Kopf hatte er sich mit einem hohen konischen Hut bedeckt, von dem lange Ohrschützer herabbaumelten.
Garstang beschrieb, was sie zu erstehen gedachten. »Wir sind Pilger und wollen durch die Silberne Wüste ziehen, und dafür brauchen wir Packtiere. Wir sind gut fünfzig Personen und rechnen mit einer Reise, die in beiden Richtungen jeweils zwanzig Tage dauern dürfte. Möglicherweise kommen fünf weitere Tage hinzu, während denen wir unseren Gott ehren. Diese Angaben sollen dir als Anhaltspunkt dienen. Natürlich kommen für uns nur deine kräftigsten und ausdauerndsten und zuverlässigsten Tiere in Frage.«
»Selbstverständlich«, erwiderte der Ausstatter. »Doch mein Preis fürs Ausleihen entspricht dem des Kaufs, und deshalb solltet ihr den Wert eures Geldes voll ausnutzen und euch das Eigentum der Handelsware überschreiben lassen.«
»Und der Preis?« fragte Garstang.
»Der hängt davon ab, welche Wahl ihr trefft: Für jedes Tier verlange ich unterschiedlich viel Gold.«
Garstang beobachtete die Käfige und Pferche und schüttelte kummervoll den Kopf. »Ich muß zugeben, daß ich sehr verwirrt bin. Jedes Tier ist anders, und keines davon läßt sich in vertraute Kategorien einordnen.«
Das bestätigte der Ausstatter. »Wenn ihr Geduld habt, erkläre ich euch alles. Die Geschichte ist sehr interessant, und bestimmt könnt ihr euch anschließend ein besseres Bild von meiner Ware machen.«
»Dann haben deine Erläuterungen einen doppelten Nutzen für uns«, entgegnete Garstang höflich und übersah die ungeduldigen Gesten Cugels.
Der Ausstatter trat an ein Regal heran und griff nach einem ledergebundenen Buch. »In einer längst vergangenen Epoche entstand auf die Anweisung des Verrückten Königs Kutt hin eine einzigartige Menagerie, zu seiner ganz persönlichen Unterhaltung und auch zum Erstaunen der Welt. In seinem Auftrag schuf der Zauberer Follinense einige besondere Wesen und Teratoiden, in denen er verschiedene Charakteristiken anderer Geschöpfe vereinte. Das Ergebnis ist das, was ihr dort seht.«
»Dann existiert die Menagerie bereits so lange?« fragte Garstang verwundert.
»Natürlich nicht. Nur noch Legenden berichten über die Dinge, die der Verrückte König Kutt einst besaß. Nur dieses Buch hier ist übriggeblieben, das Register des Zauberers Follinense…«, – bei diesen Worten klopfte er auf den ledernen Band –,»… in dem er seine sonderbare Systemologie beschreibt. Zum Beispiel…« Er schlug das Buch auf. »Nun… hm. Hier haben wir eine Stelle – die diesbezüglichen Erklärungen sind nicht ganz so verständlich wie die in anderen Abschnitten –, in der er sich über die Halbmenschen ausläßt. Eigentlich handelt es sich um kaum mehr als nur einige Notizen:
›Schleichteufel: menschlicher Hybride, Zerberus,
Wirtel, springendes Insekt.
Deodand: Wolverine, Basilisk, Mensch.
Nachtschatten: Bär, Mensch, kleine Eidechse, Dämon.
Schreckner: Mensch, sehende ungewöhnlicher Hoon. Leukomorph: unbekannt. Bazil: katzenartig, Mensch, (Wespe?).‹« | Fledermaus, | ein | |||||
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Casmyre | klatschte | verblüfft | in | die | Hände. | »Hat | denn |
Follinense all jene Wesen geschaffen, woraus sich solches Leid für uns Menschen ergab?«
»Gewiß nicht«, sagte Garstang. »Jene Notizen scheinen nur das Ergebnis diverser Überlegungen zu sein. Zweimal gesteht er eine Unsicherheit ein.«
»In diesem Fall kann ich dir da zustimmen«, bemerkte der Ausstatter. »Doch wie ich schon sagte: An anderen Stellen drückt er sich weitaus klarer aus.«
»Welche Verbindung gibt es denn zwischen den Geschöpfen dort auf dem Platz und der Menagerie des Verrückten Königs?« erkundigte sich Casmyre.
Der Ausstatter zuckte mit den Schultern. »Ein weiterer Scherz Kutts: Er ließ alle Tiere frei, was allgemeine Unruhe hervorrief. Die Geschöpfe waren mit einer eklektischen Fruchtbarkeit ausgestattet und vermehrten sich, anstatt innerhalb kurzer Zeit auszusterben. Sie wurden noch bizarrer und exotischer, als sie es vorher waren, und heute kann man sie in großer Zahl in der Oparonaebene und dem Blangid-Wald finden.«
»Und was ist mit uns?« warf Cugel ein. »Uns steht der Sinn nach fügsamen und schlichten Packtieren, nicht nach Ungeheuern – wenn sie auch noch so interessant sein mögen.«
»Auf einige meiner Tiere trifft deine Beschreibung durchaus zu«, erwiderte der Ausstatter geziert. »Und sie sind besonders teuer. Andererseits jedoch könntet ihr mit einer einzigen Tierce ein langhalsiges und dickbäuchiges Geschöpf von bemerkenswerter Gefräßigkeit kaufen.«
»Der Preis ist wirklich günstig«, sagte Garstang bedauernd. »Leider aber brauchen wir Tiere, die Nahrungsmittel und Wasser durch die Silberne Wüste tragen können.«
»In dem Fall wird die Sache etwas schwieriger.« Nachdenklich ließ der Ausstatter seinen Blick über die Pferche schweifen. »Das große und zweibeinige Wesen dort ist vielleicht nicht ganz so wild, wie es aussieht…«
Schließlich wählten die Pilger insgesamt fünfzehn Tiere, und man einigte sich auf einen Preis. Der Ausstatter brachte sie ans Tor. Garstang, Cugel und Casmyre verabschiedeten sich von ihm und führten die fünfzehn sonderbar aussehenden Wesen langsamen Schrittes durch die Straßen von Erze Damath. Am Westtor blieb Cugel zurück, um auf die Geschöpfe zu achten, und Garstang und Casmyre machten sich auf den Weg, um Vorräte und andere Dinge zu kaufen.
Bei Einbruch der Nacht waren die Vorbereitungen abgeschlossen, und am folgenden Morgen, als die ersten kastanienfarbenen Strahlen der aufgehenden Sonne den Obelisken trafen, verließen die Pilger die Stadt. Die Tiere trugen Brotkörbe und Wasserschläuche, und die Pilger waren mit neuen Schuhen und großen Hüten ausgerüstet. Garstang hatte zwar keinen Führer finden können, doch von dem Geografen eine Karte erhalten. Die Darstellung bestand aus kaum mehr als einem kleinen Kreis, neben dem ›Erze Damath‹ stand, und einem größeren, der mit ›Songanmeer‹ gekennzeichnet war.
Cugel führte eins der Tiere, ein zwölfbeiniges und sechs Meter langes Wesen mit einem lohfarbenen Fell, das den ganzen Leib bedeckte. Der Kopf war ziemlich klein, und das winzige Gesicht offenbarte ständig ein dümmliches Grinsen. Cugel fand seine Aufgabe alles andere als angenehm, denn dauernd strich ihm der stinkende Atem des Geschöpfes über den Nacken, und manchmal kam es so dicht heran, daß es ihm in die Fersen trat.
Von den siebenundfünfzig Pilgern, die vor Tagen das Floß verlassen hatten, machten sich neunundvierzig auf den Weg nach dem Tempel an der Küste des Songanmeeres, und diese Zahl reduzierte sich fast sofort auf achtundvierzig. Ein gewisser Tokharin, der sich von den anderen abwandte, um sich zu erleichtern, wurde von einem Riesenskorpion gestochen, rannte laut schreiend und mit weiten Sätzen nach Norden und geriet bald darauf außer Sicht.
Der Tag verstrich ohne weiteren Zwischenfall. Vor den Pilgern erstreckte sich eine trockene graue Öde aus Sand und einigen wenigen Felsen, ein Land, dessen einzige Vegetation aus Eisenkraut bestand. Im Süden waren die Buckel niedriger Hügel zu sehen, und Cugel glaubte, auf den Kuppen zwei oder drei reglose Gestalten zu erkennen. Bei Sonnenuntergang hielt die Karawane an. Cugel erinnerte sich an die Warnung vor den Banditen, die diese Gegend unsicher machen sollten, und er überredete Garstang dazu, zwei Wachtposten aufzustellen: Lippelt und Mirch-Masen.
Am nächsten Morgen waren die beiden Männer spurlos verschwunden, und unter ihren Gefährten breitete sich eine düstere, niedergeschlagene Stimmung aus. Nervös drängten sie sich zusammen und blickten in alle Richtungen. Flach lag die Wüste im trüben Licht des beginnenden Tages vor ihnen. Im Süden die Hügel – das braunrote Licht der Sonne erhellte nur erst ihre Kuppen. Und ansonsten eine Ebene, die bis zum Horizont reichte.
Kurz darauf setzte sich die Karawane wieder in Bewegung, und jetzt gehörten ihr nur noch sechsundvierzig Personen an. Cugel erhielt erneut den Auftrag, sich um das vielbeinige Wesen zu kümmern, das sich nun einen Spaß daraus machte, ihm immer wieder das dumm grinsende Gesicht zwischen die Schulterblätter zu stoßen.
Auch dieser Tag verging, ohne daß irgend etwas geschah, und sie legten viele Meilen zurück. Garstang ging ganz vorn und stützte sich auf einen Stock. Hinter ihm schritten Vitz und Casmyre, gefolgt von einigen anderen. Dann kamen die Packtiere, die alle unterschiedlich aussahen: Eins war lang und sehnig; ein anderes ähnelte mit seiner großen zweibeinigen Gestalt fast einem Menschen – sah man einmal von dem Kopf ab, der so schmal und flach war wie der Panzer eines Molukkenkrebses. Ein weiteres Geschöpf, das wie eine große schwarze Kugel wirkte, hatte sechs Beine und schien dauernd zu springen und zu tanzen. Und ein viertes sah aus wie ein Pferd, dem weiße Federn gewachsen waren. Hinter den Lasttieren marschierten die restlichen Pilger, wobei Bluner aufgrund seiner übertriebenen Demut den Abschluß bildete. Als sie an jenem Abend ihr Lager aufschlugen, holte Cugel einen magischen Zaun hervor, der einst Voynod gehört hatte, und er stellte ihn so auf, daß die ganze Karawane geschützt war.
Am folgenden Tag überquerten die Pilger einige niedrige Berge, und dort wurden sie von den Banditen angegriffen. Es kam jedoch nur zu einem kleinen Scharmützel, denn den Räubern schien es in erster Linie darauf anzukommen festzustellen, durch was für ein Verteidigungspotential sich die Karawane auszeichnete. Nur Haxt trug eine Beinverletzung davon. Zwei Stunden später aber kam es zu einem ernsteren Zwischenfall. Ein großer Granitbrocken löste sich von einer hohen Felswand, rollte durch die Kolonne und tötete sowohl ein Packtier als auch Andle den Seiltanzenden Evangelisten und Roremaund den Skeptiker. Während der Nacht starb auch Haxt: Offenbar war Gift in die Wunde gedrungen.
Schwermütig und ernst brachen die Pilger wieder auf – und gerieten unmittelbar darauf in einen Hinterhalt der Banditen. Glücklicherweise reagierten die Männer rasch und entschlossen, und die Attacke kostete zwölf Halunken das Leben, während die Pilger nur den Verlust Crays und Magasthens zu beklagen hatten.
An jenem Abend herrschte eine besonders niedergedrückte Stimmung, und sehnsüchtige Blicke schweiften nach Osten, in Richtung Erze Damath. Garstang versuchte, seinen Gefährten Mut zu machen. »Wir sind Gilfigiten!« rief er. »Und Gilfig hat zu uns gesprochen! An der Küste des Songanmeeres suchen wir seinen heiligen Tempel! Gilfig ist weise und barmherzig. Jene, die für ihn ihr Leben lassen, gehen ins paradiesische Gamamere ein! Pilger! Nach Westen!«
Daraufhin schöpften die Männer neue Zuversicht, und die Karawane brach wieder auf. Dieser Tag verstrich ereignislos. Aber während der Nacht rissen sich drei Packtiere los und stürmten aus dem Lager, und Garstang sah sich veranlaßt, die Nahrungsmittel und das Wasser zu rationieren.
Am siebten Tag der Reise aß Thilfox einige giftige Beeren, begann kurz darauf zu zucken und starb, woraufhin sein Bruder Vitz, der Lokutor, ganz außer sich geriet, an der Reihe der Packtiere entlanglief, Gilfig verdammte und mit seinem Messer wahllos Wasserschläuche aufschnitt – bis Cugel ihn schließlich tötete.
Zwei Tage später erreichten die durstigen Pilger eine Quelle. Trotz der Warnungen Garstangs stürzten Salanave und Arlo sofort los und tranken gierig. Nur wenige Sekunden später krümmten sie sich zusammen, keuchten, ächzten und sanken in den Sand. Ihre Lippen liefen blau an, und kurz darauf starben sie.
Nach einer weiteren Woche erkletterten fünfzehn Menschen und vier Tiere einen Hügel und blickten über das ruhige Wasser des Songanmeeres. Cugel hatte ebenso überlebt wie Garstang, Casmyre und Subucule. Vor ihnen erstreckte sich ein sumpfiges Gebiet, und mit dem Amulett, das er vor Iucounu erhalten hatte, überprüfte Cugel das Wasser eines kleinen Flusses. Alle tranken dankbar und verschlangen anschließend das Riegras, das von dem gleichen magischen Gegenstand in eine nahrhafte, wenn auch fade schmeckende Speise verwandelt wurde.
Nach einer Weile glaubte Cugel, eine nahe Gefahr zu spüren, und er richtete sich auf und bemerkte verdächtige Bewegungen im Schilf. Er gab seinen Gefährten Bescheid, und sie alle machten ihre Waffen bereit. Doch was auch immer durch das hohe Gras geschlichen war: Es erschrak und ergriff die Flucht. Es dauerte nur noch einige wenige Stunden bis zum Abend: Die Pilger begaben sich ans Ufer und versuchten, ihre Situation einzuschätzen. Nach Norden und Süden blickten sie, doch von dem erhofften Tempel war weit und breit nichts zu sehen. Einige Männer verloren die Geduld. Es kam zu einem heftigen Streit, den Garstang nur schlichten konnte, indem er sich ganz auf seine Überzeugungskraft besann.
Dann kehrte Balch zurück, der über den Strand davongewandert war. »Ein Dorf!« rief er aufgeregt.
Hoffnungsvoll eilten sie alle los, doch als die Pilger näher herankamen, erwies sich das Dorf als eine Ansammlung armselig wirkender Hütten, in denen Eidechsenleute wohnten. Sie zischten und fauchten und schwangen drohend ihre dünnen blauen Schwänze. Die Pilger suchten wieder den Strand auf, hockten sich in den Sand und warteten auf die Ebbe.
Garstang war aufgrund der Anstrengungen und Entbehrungen der langen und beschwerlichen Reise hohlwangig geworden, und er ergriff als erster das Wort, wobei er versuchte, möglichst optimistisch zu klingen. »Wir haben es geschafft, den Sieg über die Schrecken der Silbernen Wüste errungen! Jetzt brauchen wir nur noch den Tempel zu finden und in ihm zu beten. Anschließend können wir nach Erze Damath zurückkehren, und dann erwartet uns eine Zukunft voller Freude und Wonne!«
»Das wäre wirklich schön«, sagte Balch. »Aber was ist, wenn wir den Tempel nicht finden? So weit man auch über den Strand blicken kann – von einem heiligen Ort oder einer Weihestätte keine Spur!«
»Wir müssen Gilfig vertrauen«, erklärte Subucule. Er kratzte einen Pfeil in ein Stück Treibholz, das er dann mit seiner heiligen Borte berührte. »Gilfig, o Gilfig!« rief er. »Führ uns zum Tempel! Ich werfe jetzt diesen Wegweiser in die Höhe!« Und er schleuderte das Holz hoch in die Luft. Als es auf den Boden zurückfiel, deutete der Pfeil nach Süden. »Nach Süden müssen wir wandern!« stellte Garstang fest. »Nach Süden zum Tempel!«
Doch Balch und einige andere wollten nichts davon wissen. »Begreifst du denn nicht, daß wir fast zu Tode erschöpft sind? Meiner Ansicht nach hätte uns Gilfig sofort zum Tempel führen sollen, anstatt uns einem ungewissen Schicksal zu überlassen!«
»Gilfig hat uns einen Hinweis gegeben«, sagte Subucule. »Sieh doch nur, in welche Richtung der Pfeil zeigt!«
Balch lachte heiser und spöttisch. »Wenn man etwas hochwirft, fällt es früher oder später auf den Boden zurück und kann ebensogut nach Süden zeigen wie auch nach Norden.«
Subucule starrte ihn entsetzt an. »Das ist Blasphemie! Du verleugnest Gilfig!«
»Ganz und gar nicht. Ich bin nicht sicher, ob Gilfig deine Ankündigung hörte, und vielleicht blieb ihm nicht genug Zeit, um so zu reagieren, wie du es erwartet hast. Wirf das Stück Holz hundertmal hoch. Wenn der Pfeil immer nach Süden weist, bin ich bereit, sofort aufzubrechen.«
»Nun gut«, sagte Subucule. Erneut beschwor er Gilfig und warf das Stück Holz in die Höhe. Doch als es in den Sand zurückfiel, deutete der Pfeil nach Norden.
Balch gab keinen Ton von sich. Subucule zwinkerte und lief rot an. »Gilfig hat nichts für solche Spielereien übrig. Er hat uns einmal gezeigt, in welche Richtung wir uns wenden müssen, und das hielt er für ausreichend.«
»Ich bin nicht überzeugt«, meinte Balch.
»Ich auch nicht.«
»Und ich ebenfalls nicht.«
Garstang hob flehentlich die Arme. »Wir haben die Silberne Wüste durchquert und gemeinsam gelitten und gefeiert, gemeinsam gekämpft und getrauert – laßt uns jetzt nicht streiten!«
Balch und die anderen zuckten nur mit den Schultern. »Ich sehe keinen Sinn darin, einfach so nach Süden zu marschieren, ohne zu wissen, ob wir uns dadurch unserem Ziel nähern.«
»Was willst du denn dann? Nach Norden gehen? Oder nach Erze Damath zurückkehren?«
»Nach Erze Damath? Ohne Vorräte und mit nur noch vier Packtieren? Pah!«
»Dann laßt uns gemeinsam nach Süden ziehen und den Tempel suchen!«
Erneut zuckte Balch nur mit den Achseln, und Subucule wurde zornig. »Nun gut! Jene, die nach Süden wandern wollen, auf die linke Seite! Die anderen, die Balchs Meinung teilen, auf die rechte!«
Garstang, Cugel und Casmyre gesellten sich Subucule hinzu. Die anderen blieben bei Balch. Es waren insgesamt elf Pilger, und sie flüsterten leise miteinander, während die vier gläubigen Pilger sie erwartungsvoll beobachteten.
Die elf Männer standen auf. »Lebt wohl!«
»Wohin geht ihr?« fragte Garstang.
»Spielt das eine Rolle? Sucht ihr den Tempel, wenn ihr das unbedingt müßt. Wir kümmern uns um unsere eigenen Angelegenheiten.« Ohne weitere Worte zu verlieren, wandten sich die elf Pilger um und begaben sich ins Dorf der Eidechsenleute. Dort töteten sie die männlichen Wesen, feilten die Zähne der weiblichen stumpf, kleideten sie in Bastgewänder und ernannten sich zu Herrschern.
Garstang, Subucule, Casmyre und Cugel hingegen wanderten am Ufer entlang nach Süden. Bei Einbruch der Nacht schlugen sie ein Lager auf und verzehrten Krabben. Am nächsten Morgen stellten sie fest, daß sich die vier restlichen Lasttiere auf und davon gemacht hatten. Jetzt waren sie ganz allein.
»Das ist der Wille Gilfigs«, verkündete Subucule. »Wenn wir den Tempel gefunden haben, sollen wir sterben.«
»Mut!« brummte Garstang. »Wir dürfen nicht der Verzweiflung zum Opfer fallen!«
»Bleibt uns denn etwas anderes übrig, als zu verzweifeln? Sehen wir das Pholgustal jemals wieder?«
»Wer weiß? Zuerst müssen wir im Tempel beten.«
Sie machten sich wieder auf den Weg und nutzten das letzte Licht des Tages aus. Als es dunkel wurde, waren sie so müde, daß sie sich einfach nur in den Sand sinken ließen.
Vor ihnen erstreckte sich das Meer, flach wie ein Spiegel, so ruhig, daß sich auf dem Wasser nicht etwa ein langer Glanzstreifen zeigte, sondern ein exaktes Ebenbild der Sonne. Erneut verspeisten sie Muscheln und Krabben, und anschließend streckten sie sich aus, um zu schlafen.